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Schwerer Unfall

Ein völlig sinnloser Tod auf der F 96

Neubrandenburg / Lesedauer: 6 min

Vor 33 Jahren starben vier junge Neubrandenburger bei einem Unfall. Das Unglück spukt noch immer im Kopf eines schon lange pensionierten Polizisten herum, der als einer der ersten am Unfallort war.
Veröffentlicht:17.10.2020, 07:54

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Die junge Frau war krank damals. Ganz plötzlich, und wenn je eine Krankheit zu unpassenderer Zeit kam, dann in jenem Fall. Denn die Neubrandenburgerin wollte unbedingt – gemeinsam mit anderen aus einem großen und bis heute zusammenhaltenden Freundeskreis – an diesem 17. September 1987 nach Berlin. Dort im Treptower Park, man konnte es kaum glauben in dem Spätsommer, welcher der drittletzte in der DDR sein sollte, war Bob Dylan angesagt. Dylan, der Gottvater aller Songwriter persönlich. Nichts war der DDR zum 750. Geburtstag Berlins zu groß.

Ein folgenschwerer Tag bei Neustrelitz

Konzertkarten, verteilt von der DDR-Jugendorganisation FDJ, besaßen nur die wenigsten unter den Neubrandenburgern, die unbedingt nach Berlin wollten. Aber das war egal. Erst mal hin nach Treptow, alles andere würde sich schon finden. So hatten sie das zu anderen Gelegenheiten auch schon gemacht und immer ging alles gut und klappte.

Am Abend des gleichen Tages hatte auch ein Offizier der Volkspolizei in Neustrelitz schlechte Laune. Frank Etzold, der seit sieben Jahren pensionierte Polizeihauptkommissar, hatte am 17. September 1987 keinen guten Tag. Während einer Überprüfung durch eine vorgesetzte Dienststelle schnitt er nicht so gut ab, wie er das gern gewollt hätte. Und dann kam zu nachtschlafender Zeit auch noch der Anruf vom Diensthabenden im Volkspolizeikreisamt: schwerer Unfall auf der F 96 am südlichen Neustrelitzer Ortseingang. Er müsse sofort dort erscheinen, befahl der Diensthabende. Denn an jenem Unfall sollen Angehörige der sowjetischen Armee beteiligt sein. Etzold zog sich in Windeseile an und fuhr los.

Heikle Ermittlungen

Für den Volkspolizisten zunächst nichts Ungewöhnliches. Etzold war seinerzeit bei der Neustrelitzer Kripo für alle Straftaten zuständig, in die auf die eine oder andere Weise die „Russen“ verwickelt waren. Und das waren nicht wenige. Einbrüche in Lauben oder im Dorfkonsum oder auf Zeltplätzen waren fast an der Tagesordnung. „Wir haben ermittelt und die Ergebnisse sind dann an die sowjetische Kommandantur übersandt worden“, erinnert sich der pensionierte Polizist. Nicht immer seien sie auf Gegenliebe des „großen Bruders“ gestoßen. Es soll immer mal wieder Verfahren gegeben haben, die ihnen die sowjetische Seite nicht abgenommen hat. „Wir konnten sie nicht immer überzeugen“, sagt Etzold heute.

Arbeit hatte der VP-Offizier genug. Die Residenzstadt in der Mecklenburgischen Seenplatte wurde von den Russen stark geprägt: Mit weit mehr als 20 000 Soldaten, Offizieren und Angehörigen stellten sie fast fünf Jahrzehnte lang die Hälfte der Bevölkerung. Die 16. Garde-Panzerdivision war in Neustrelitz zu Hause, bis Ende Mai 1993 die ersten Truppen das Strelitzer Land verließen – auf einer zehntägigen Bahnfahrt ins ferne Tschaikowski im Ural, dem neuen Stationierungsort der Division.

Vier Tote in einem Trabant

Nur wenige Minuten nach seiner Alarmierung traf Frank Etzold in jener schicksalhaften Nacht an dem verhängnisvollen Abzweig von der damaligen F 96 in Richtung des Altstrelitzer „Alex“ ein. Notärzte und Sanitärer waren schon vor ihm da – helfen konnten die aber nicht mehr. Bei dem Zusammenstoß eines Trabants mit einem sowjetischen Militär-Lkw – und nicht einem Panzer, wie schon irrtümlich gemeldet – starben noch an der Unfallstelle vier junge Neubrandenburger. Alle kamen vom Konzert mit Bob Dylan aus Berlin. „Ein Bild des Schreckens“, sitzt die Erinnerung noch immer tief bei dem Polizisten Etzold. Zeit, sich seinen Emotionen hinzugeben, blieb dem Mann aber nicht. Er hatte zu tun.

„In dem Fahrzeug saßen ein Fähnrich und ein Soldat“, weiß der Ermittler nach mehr als 33 Jahren immer noch genau. Gefahren ist der Soldat, der aber war an der Unfallstelle nicht mehr zu finden. Erst später bekam Etzold auch den zu fassen. Nach dem ersten Schock und dem Wegrennen klingelte der Soldat am benachbarten und damals noch in Dienst stehenden Gefängnis in Altstrelitz. Er wolle sich stellen, sagt der Rotarmist dem verblüfften Mann am vergitterten Eingang.

Viele Gerüchte um den Vorfall

Die beiden Männer aus dem Unglücks-Lkw waren nicht betrunken, erinnert sich Frank Etzold. Und weiß genau, dass bis heute andere Geschichten darüber erzählt werden. „Nein, waren die nicht“, so der Ermittler, der heute als Bürgermeister die Geschicke des Müritzdorfes Sietow lenkt. Wohl aber waren die beiden auf der „Jagd“ nach Schnaps. Die Unfallfahrer suchten die Gaststätte „Franziskaner“, erzählt der Ex-Polizist, hätten sich dabei verfahren und seien dann beim Abbiegen auf die linke Fahrspur geraten und mit dem aus Süden kommenden Trabbi zusammengestoßen. Was aus dem Soldaten und dem Fähnrich geworden ist, weiß Etzold nicht. Verurteilungen seien ihnen von der sowjetischen Seite nie mitgeteilt worden. „Das haben die unter sich geregelt.“

Ein Unfall, geeignet, die viel beschworene deutsch-sowjetische Freundschaft in der Bevölkerung der Region auf eine harte Probe zu stellen. Teilnehmer der Beisetzungen der Unfallopfer in Neubrandenburg erinnern sich daran, dass die Trauergäste misstrauisch beäugt und sogar fotografiert wurden von Leuten aus dem Ministerium für Staatssicherheit.

Eine ungewöhnliche Anzeige

Um ihrer unfassbaren tiefen Trauer Ausdruck zu verleihen, entschlossen sich die Freunde damals zu einer ungewöhnlichen Aktion – und verfassten eine Traueranzeige, wie sie die „Freie Erde“, die Vorgängerin des „Nordkurier“, bis dahin noch nie gesehen hat und die bei einer Visite im Neubrandenburger Stadtarchiv wiederentdeckt werden konnte. „Unsere Freunde sind tot“, heißt es darin, und „For ever young“. Dann folgen 48 Vornamen und das Versprechen, die Opfer bleiben für die Freunde immer lebendig.

Verwunden hat das alles niemand aus dem großen Freundeskreis, bis heute nicht. Psychologische Hilfe für Augenzeugen, Angehörige und Freunde, heute fast selbstverständlich, war damals noch gänzlich unbekannt. Die Neubrandenburgerin, die damals wegen ihrer Krankheit passen musste, war gemeinsam mit ihrer Familie vor zehn Jahren bei einem Konzert des großen Bob Dylan in Berlin. Mit dabei in den Gedanken die vier Freunde, die vom ersten Konzert nicht wieder zurückkehren sollten.