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Wendezeit

Als ein Feldberger in der Prager Botschaft Zuflucht suchte

Feldberg / Lesedauer: 6 min

Mathias Reimann hat 1989 die DDR verlassen. Er kam auf seiner Flucht am 30. September in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland an.
Veröffentlicht:30.09.2019, 09:17

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Ein bunter Strauß Chrysanthemen aus der Feldberger Gärtnerei Rost hat Mathias Reimann im September 1989 bei der Flucht aus der DDR geholfen. Wenn man so will, war Reimanns Mutter Sieglinde sogar eine Fluchthelferin. Und aus heutiger Sicht verlief die Sache auch noch „optimal“, sagt Reimann, der vor anderthalb Jahren in seine Heimat zurückkehrte und in Feldberg derzeit eine alte Villa saniert. Die Geschichte lohnt es der Reihe nach zu erzählen:

Mathias Reimann gehört in jenem September 1989 zu den vielen Menschen, die in der DDR keine Zukunft sehen. Den jungen Familienvater, Sohn Philipp war gerade drei Jahre alt, und seine Lebensgefährtin beschäftigten schon lange Fluchtgedanken. Doch, wie die Sache anstellen? Reimann wollte in die Prager Botschaft der BRD, das stand fest. Aber es hatte sich auch herumgesprochen, dass die Sicherheitskräfte der DDR aus den Zügen nach Prag alles aussortierten, was ihnen auch nur im Entferntesten verdächtig vorkam.

Eine Reise mit ungewissem Ausgang

Der Feldberger entschloss sich an einem Tag Ende September 1989 dennoch spontan mit seiner kleinen Familie loszufahren. Nur seine Eltern waren eingeweiht. Die Stasi war schließlich auch in Feldberg allgegenwärtig. Reimanns Mutter Sieglinde litt in dieser Zeit besonders, schien es doch, dass der Sohn für immer weg war. „Ich konnte es nicht ertragen, meinen Sohn weggehen zu sehen“, sagt die heute 88-Jährige. Dennoch fügte sie sich dem offenbar Unausweichlichen. Und hatte in der Not eine Idee, die sich später als sehr hilfreich erweisen sollte. Sieglinde Reimann lief in die Feldberger Gärtnerei Rost und kaufte dort Chrysanthemen. „Wenn es so aussieht, als würden die Zugpassagiere zu einer Hochzeit oder zu einem Geburtstag fahren, werden sie vielleicht nicht aussortiert“, so ihre Hoffnung.

Gesagt, getan. Mit den Blumen und einem als Geschenk verpackten Karton machte sich die kleine Familie auf die Reise mit dem ungewissen Ausgang. Jeder hatte nur dasNötigste in einem Rucksack dabei. In Dresden durchkämmten erwartungsgemäß Grenzer und Polizisten den Zug Waggon für Waggon. Die meisten Reisenden mussten raus. Offenbar galt nahezu jeder als potenzieller Ausreisewilliger. Bei den drei Feldbergern indessen wirkte die Inszenierung: Der Blumenstrauß, das verschnürte Päckchen, dazu noch das kleine Kind. Mathias Reimann und seine Begleiter durften sitzen bleiben und fuhren Stunden später in den Prager Hauptbahnhof ein. Von dort ging es mit dem Taxi zur Prager Botschaft.

Rund 4000 DDR-Bürger auf dem Gelände

„Am Straßenrand haben jede Menge Trabis und Wartburgs gestanden. Viele davon waren bereits ausgeschlachtet, sie standen offenbar schon Wochen dort“, erinnert sichMathias Reimann. Noch weit von der Botschaft entfernt hörte er schon das Stimmengewirr. Rund 4000 DDR-Bürger hatten mittlerweile auf dem Gelände Zuflucht gesucht. Das Areal war hoffnungslos überfüllt, die Grenzen für eine menschliche Unterbringung waren schon lange überschritten. DochMathias Reimann war noch gar nicht auf dem Botschaftsgelände. Er hatte eigentlich auch keinen Plan, wie er da hin kommen sollte. Da half ihm der Zufall, oder die Tatsache, dass die Welt offenbar auch in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland ein Dorf war. Eine bekannte Stimme ertönte aus der Menschenmenge hinter dem Zaun. „Mathias, du bist ja auch hier“, so oder ähnlich mag der Ausruf seines KumpelsUli Wolf geklungen haben, der auch aus Feldberg stammte und offenbar schon länger in der Botschaft ausharrte. Wolf half von innen eine Räuberleiter zu bilden. Der kleine Sohn wurde als erster über den Zaun bugsiert. Ein dramatischer Moment. „Philipps Mutter schrie laut, sie wusste ja nicht, ob wir da jetzt hinterher kommen“, sagt Mathias Reimann. Aber auch die beiden Erwachsenen konnten den Zaun überwinden. Damit war Wesentliches geschafft an diesem 30. September 1989.

Sechs Stunden nachdem die drei Feldberger auf dem Botschaftsgelände angekommen waren, betrat der gebürtige HallenserHans-Dietrich Genscher, Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, um 18.59 Uhr den Balkon der Botschaft. Durch ein schlecht verstärkendes Megafon verkündete er jenen entscheidenden und berühmten Satz, dessen letzte drei Worte im Jubelgeschrei der Massen untergingen: „Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ...“ Die Worte „möglich geworden ist“ bekam kaum noch jemand mit.

Der „Rest“ ist dann sehr schnell gegangen. „Wir wurden durch die DDR in die BRD gefahren“, erinnert sich Reimann. Im Zug habe euphorische Stimmung geherrscht. Ein hoher Beamter aus einem Bonner Ministerium habe die aufgeregten Menschen immer wieder zur Ruhe gemahnt. In Dresden hätte auf dem Bahnhof eine bewaffnete Kette von Soldaten und Polizei auf dem Bahnsteig gestanden. „Von der Rolle, wie wir waren, warfen wir unsere letzten Ostmark heraus“. Der Bonner Beamte habe ganze Arbeit leisten müssen. „Das hier kann jeden Moment eskalieren“, sagte er immer wieder, erinnert sich Mathias Reimann.

Trotz Mauerfall in der Bundesrepublik Deutschland geblieben

Am Ziel in Raststatt im Westen warteten Busse auf die ausgereisten DDR-Bürger. Als erstes fuhr einer nach Heilbronn, „den haben wir genommen“, sagt Mathias Reimann. Noch in Raststatt versuchte er aus einer Telefonzelle heraus seine Mutter anzurufen, was erst nach vielen Versuchen gelang. „Ich war doch so in Sorge“, erinnert sich Sieglinde Reimann.

Was beide damals nicht ahnten, ein paar Wochen später fiel die Mauer und noch im November konnte Sieglinde Reimann ihren Sohn besuchen. Mathias Reimann ist in Baden Württemberg heimisch geworden, er hat sich dort ein neues Leben aufgebaut. Seine Heimat hat er aber nie aus den Augen verloren. Vor gut zwei Jahren entschloss er sich, nach Feldberg zurückzukehren. Seit März 2018 lebt er dort, saniert eine Villa. „Es gibt Kraft, wenn die Feldberger, die an der „Villa Ventil“ vorbeigehen mich ermutigen, das Projekt durchzuziehen“, sagt er. Und Sieglinde Reimann ist glücklich darüber, dass der vor 30 Jahren für kurze Zeit verloren geglaubte Sohn endlich wieder daheim ist.