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DDR-Unrecht

Seit 40 Jahren auf der Suche nach dem eigenen Kind

Neubrandenburg / Lesedauer: 6 min

Nichts blieb Waltraud Franke von ihrer Tochter. Wie anderen Frauen aus der DDR ließ der Mecklenburgerin der Verlust keine Ruhe. Könnten die Behörden ihr das Kind „geraubt“ haben und es noch leben?
Veröffentlicht:22.01.2020, 05:40

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Das einzige, was der damals 17-Jährigen nach der Geburt in der Malchiner Klinik von ihrer ersten Tochter in Erinnerung blieb, sind die dichten Haare. „Ich sah nur ein schwarzes Köpfchen und dann wurde das Kind auch schon weggenommen“, erzählt Waltraud Franke. Kurz darauf die traurige Nachricht für das junge Paar: Das Kind sei verstorben. Atemnotsyndrom hieß es als offizielle Todesursache. Im Sommer 1976 war das, vor über 40 Jahren. Doch der Tod der kleinen Jeanette ließ der Frau über die Jahrzehnte keine Ruhe. „Ich konnte das von Anfang an nicht glauben.“ Könnte das Kind ihr von den Behörden in der damaligen DDR widerrechtlich weggenommen worden sein und heute gar noch leben? Eine Angst, welche die ehemalige Bredenfelderin mit zahlreichen Frauen teilt.

Vor der Wende hätte die Stasi sie kassiert

Es ist eines der letzten großen unaufgearbeiteten Themen der ehemaligen DDR. In Mecklenburg-Vorpommern wandten sich in den vergangenen Jahren mehr als 100 betroffene Angehörige mit Anfragen im Zusammenhang mit früh verstorbenen Kindern oder unklaren Todesfällen im Kindesalter an die Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Anne Drescher. Ähnlich groß ist die Nachfrage zur Klärung von Adoptionsverfahren aus der DDR-Zeit. Jüngst befasste sich in Schwerin eine Fachtagung der Landesbeauftragten damit – unter dem Titel „Zwischen Zweifel und Akzeptanz. Kindstode, Kindesentzug und Adoption in der DDR – Der Umgang mit dem Unfassbaren“.

„Ich war damals 17 Jahre alt und ein leichtes Opfer“, sagt Waltraud Franke heute von sich. Sie war zwar verlobt und ihr Partner sowie späterer Ehemann Soldat bei der Nationalen Volksarmee. Doch als junge Frau konnte sie sich nicht wehren gegen die Macht der Ärzte. Ab 1991 machten sich Waltraud Franke und ihr Mann Klaus, die schon seit langer Zeit in Bayern leben, mit akribischem und detektivischem Eifer auf die Suche nach Unterlagen zum Leben sowie Tod ihrer Tochter. „Das kostet Arbeit und Geld“, sagt die heutige Rentnerin. „Vor der Wiedervereinigung konnte man nichts machen, sonst wären wir gleich von der Stasi kassiert worden“, fügt ihr Mann hinzu. Im Spätsommer führte sie ihre Recherche auch nach Neubrandenburg und in andere Orte des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte. Angefragt wurde bei Krematorien, Kliniken, Einwohnermeldeämtern und auch bei der Stasi-Unterlagenbehörde.

Ehepaar machte viele Beteiligte ausfindig

Einige Dokumente konnten die Frankes auftreiben, selbst den Arzt, der die schriftliche Anzeige über den Tod des Säuglings unterschrieb und der dort ungewöhnlicherweise mit seiner Personenkennziffer verzeichnet war, machten sie ausfindig. Doch das Rätsel um den Verbleib ihrer Tochter konnten sie nicht klären. „Je mehr ich erfahre, desto mehr Zweifel kriege ich“, sagt die 62-Jährige. Geboren wurde das Kind am 25. Juni 1976 in Malchin, der Todestag wurde mit dem 30. Juni 1976 angegeben. Sterbeort ist Güstrow.

Seltsame Vermerke auf den Urkunden

Besonders skeptisch machen die heutigen Eheleute die unterschiedlichen Angaben zum Geburtszeitpunkt. Ursprünglich war die schriftliche Geburtsanzeige auf den 25. Juni 1976 um 16 Uhr ausgestellt. Dies wurde aber nachträglich offiziell geändert auf den 26. Juni. Dies geschah auf Anordnung des Rates des Kreises Malchin – also von führender Stelle. Auf der schriftlichen Geburtsanzeige wurden auch zahlreiche handschriftliche Vermerke gemacht. Auch die Hebamme, welche die ominöse Änderung des Geburtsdatums unterschrieb, konnten die Frankes sprechen, die damals junge Frau gibt aber an, sich nicht erinnern zu können. „Ich bin bei der Geburt aber von einer älteren Hebamme betreut worden“, erinnert sich Waltraud Franke.

Für das Paar ging das Leben nach dem offiziellen Tod der Tochter weiter, wenige Monate später war Hochzeit, zwei weitere Kinder folgten, doch das ungute Gefühl blieb. „Ich habe das alles viele Jahre verdrängt, bis ich krank wurde“, sagt die heutige Rentnerin. Als sie dadurch viel Zeit hatte, fing sie an zu suchen. Hilfe fand sie im Internet in sozialen Netzwerken. Allein eine Gruppe auf Facebook, in der sich auf der Suche nach Kindern oder Geschwistern aus DDR-Zeiten Betroffene austauschen, hat mehr als 2000 Mitglieder.

Die Ungewissheit frisst einen auf

Alle möglichen Stellen haben die Eheleute konsultiert, so auch Friedhöfe und deren Verwaltungen, denn nirgendwo gab es ein Grab oder zumindest Unterlagen über eine Einäscherung, obwohl das Paar eine Bestattung gewünscht hatte. Auch das Hebammenjournal hätte noch aufbewahrt werden müssen, es ist aber nicht zu finden, zumindest ein Vernichtungsprotokoll müsste es geben, aber auch hier Fehlanzeige. Totenschein oder einen Autopsiebericht lassen sich ebenfalls nicht finden, wie Anfragen bei Kliniken im Land ergaben. Das Kind sei wie vom Erdboden verschwunden, sagen die Eheleute.

Sie wollen eigentlich nur Gewissheit, ob die Tochter noch lebt oder nicht. Falls sie noch am Leben ist, glaubt Waltraud Franke nicht daran, dass es noch möglich wäre, eine Beziehung aufzubauen. „Aber die Ungewissheit zerfrisst einen.“ Auch das Wirrwarr bei den Behörden zermürbt die Eheleute, auch wenn die meisten hilfsbereit sind und ihnen unisono zustimmen, dass an dem Fall etwas nicht stimmt.

Jeanette tauchte auf dem Rentenbescheid auf

Aus allen Wolken fielen die Eheleute dann, als per Brief der Rentenbescheid von Waltraud Franke ins Haus flatterte. Zu ihrem ungläubigen Erstaunen wird die Tochter dort vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 1978 mit aufgeführt. Da war das Kind offiziell schon zwei Jahre tot. Wie die Rentenkasse an diese Daten kommt, ist unklar. Die Frankes haben mittlerweile schon alle Behörden abgeklappert, in der Hoffnung, noch Aufklärung zu bekommen. In der lange erwarteten Auskunft der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen hieß es nur, dass keine Stasi-Unterlagen zu dem Paar vorlägen, obwohl es in einer Anfrage aus 2002 hieß, es gebe eine Registriernummer für Klaus Franke.

Mit ihrem Schritt an die Öffentlichkeit über den Nordkurier will das Paar anderen Betroffenen Mut machen, sich auf die Suche zu begeben. „Ich bin nicht die einzige Frau, die ihr Kind sucht“, sagt Waltraud Franke kämpferisch. Ihr Mann fügt hinzu: „Man denkt aber doch oft, man ist mit seinem Schicksal allein.“