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Mord in Torgelow

Leonies Tod offenbart eklatante Mängel im Gesundheitssystem

Neubrandenburg / Lesedauer: 3 min

Der Leonie-Prozess in Neubrandenburg lässt in tiefste Abgründe elterlicher Gewalt und menschlichen Leids schauen. Doch er legt auch Lücken in der Gesundheitsvorsorge von Kindern offen.
Veröffentlicht:26.10.2019, 08:15

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Jochen Unterlöhner ist von Berufs wegen zur Neutralität verpflichtet. Doch was der Richter da eben gehört hatte, brachte ihn an den Rand der Verzweiflung: Enrico K., Sozialarbeiter beim Landkreis Vorpommern-Greifswald, hatte mit schlichter Offenheit berichtet, wie schnell und einfach Noah-Joel, kleiner Bruder der getöteten Leonie, durchs Raster der frühkindlichen Vorsorgeuntersuchungen gefallen war. „Ich fasse das nicht. Da gibt es Regelbedarf, da ist die Politik gefordert“, fand Unterlöhner deutliche Worte.

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Die durchaus emotionale vorgetragene Mahnung des Richters im Prozess um den Tod der sechsjährigen Leonie hatte ihre berechtigen Gründe. Nachdem die Familie des Mordangeklagten David H. es versäumt hatte, rechtzeitig eine frühkindliche Untersuchung beim damals zweijährigen Noah-Joel durchführen zu lassen, hatte das Landesamt für Gesundheit (LaGus) das zuständige Jugendamt des Landkreises Vorpommern-Greifswald beauftragt, vor Ort nachzuforschen. Und so stattete Enrico. K. der Familie um Stiefvater David H. sowie der leiblichen Mutter Janine Z. am 26. November vergangenen Jahres einen „unangemeldeten Hausbesuch“ in Torgelow ab.

Behörden und Kinderärztin lassen sich abwimmeln

Doch Janine Z. wimmelte den Sozialarbeiter binnen weniger Sekunden ab. „Sie sagte mir, dass sie am 8. November bei einer Untersuchung gewesen und alles okay sei“, sagte Enrico K. als Zeuge vor Gericht. „Haben Sie den kleinen Jungen sich denn angesehen beziehungsweise untersucht?“, fragte der Richter nach. „Nein“, antwortete der Mann vom Landkreis. Hätte er sich den Körper des Jungens näher angeschaut, hätte er vielleicht mehr gesehen.

Denn: Janine Z. war tatsächlich am 8. November mit Noah-Joel bei einer Untersuchung bei der Kinderärztin Dagmar S. in Pasewalk. Die Medizinerin berichtete im Zeugenstand: „Das Kind war normal entwickelt, hatte aber Hämatome im Gesicht und an der Schläfe sowie am Rücken und am Knöchel. Hinzu kamen striemenartige Verletzungen am Arm.“ Nachfrage des Richters: „Haben Sie die Verletzungen gemeldet?“ Antwort der Ärztin: „Nein. Wir sind nicht verpflichtet, das zu melden. Zumal die Mutter mir gesagt hatte, dass die Verletzungen von Streitereien im Kindergarten und der ruppigen Art von Noah-Joels Schwester Leonie stammen würden.“

Konsequenzen erst nach Leonies Tod

Eine offenbare Notlüge von Janine Z. – im Kindergarten war Noel-Joel zum Zeitpunkt der Untersuchung schon wochenlang nicht mehr gewesen. Aus fadenscheinigen Gründen. Das sich die Familie bei mutmaßlichen Misshandlungen ertappt fühlte, zeigte auch, dass sie einen für den 13. November vereinbarten Folgetermin bei der Kinderärztin in Pasewalk einfach sausen ließ. Und auch der Sozialarbeiter ließ die Sache nach der verabreichten „Beruhigungspille“ durch Mutter Janine Z. sausen. Noah-Joel war damit aus den Augen von Behörden und Medizinern.

Dort tauchte der kleine Junge erst wieder auf, nachdem seine Schwester mutmaßlich schwer misshandelt tot in der Wohnung in Torgelow aufgefunden worden war. Am 15. Januar, drei Tage nach Leonies Tod, war Noah-Joel zurück in der Obhut seines leiblichen Vaters Oliver E. gekehrt – schwer gezeichnet von weiteren Verletzungen. „Gewaltsam malträtierte Ohren, gewaltsam zerrissene Lippen – es war grausam, brutal, schockierend“, berichtete Kinderärztin Susanne S. aus Wolgast. Sie untersuchte Noah-Joel und ließ ihn stationär einweisen. Die Ärztin kannte die leiblichen Eltern bereits seit Jahren, hatte auch Leonie bis ein Jahr vor ihrem Tod stets untersucht. „Ohne je Misshandlungen festgestellt zu haben“, sagte die Ärztin. Das Grauen für die Kinder begann offenbar erst im Anfang 2018 mit der Trennung von Janine Z. und Oliver E. – und dem Eintritt von David H. in das Leben der unschuldigen Seelen von Leonie und Noah-Joel.

Stiefvater David H. wird von der Staatsanwaltschaft Mord durch Unterlassen und Misshandlung von Schutzbefohlenen vorgeworfen.