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Schwarze Schar MC

Vom Nazi-Biker zum Sozialarbeiter

Wismar / Lesedauer: 12 min

Philip Schlaffer war einer der bekanntesten Neonazis Mecklenburg-Vorpommerns und Präsident eines gefürchteten kriminellen Rockerclubs. Heute ist er Buddhist – und hilft gewalttätigen Jugendlichen beim Ausstieg aus der Szene.
Veröffentlicht:24.03.2019, 07:30

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„Der Typ hat den Teppich voll geblutet, also schnitten sie ihm die Kehle durch.” Philip Schlaffer nippt an seinem Kaffee. Beim Schlucken bewegt sich die Bombe, die auf seinem Adamsapfel tätowiert ist. Rechts und links daneben sind die Läufe von Pistolen zu sehen, auch die Arme sind bis zum Handgelenk mit Tattoos überzogen. Wenn er hier zwischen Studenten und Omis in diesem spießigen Café in einem Lübecker Vorort sitzt und über sein Leben als Pate der Neonaziszene in Mecklenburg-Vorpommern erzählt, dann wirkt der Zwei-Meter-Hüne wie ein Fremdkörper – wie der Hauptdarsteller eines Mafiafilms, der sich zu den Dreharbeiten für die Lindenstraße verirrt hat.

Schlaffer war Gründer und Anführer der neonazistischen „Kameradschaft Werwolf” in Wismar, danach Präsident des Rockerclubs „Schwarze Schar MC”. Mehr als ein Jahrzehnt war er einer der führenden Verbrecher des Landes, bis das Innenministerium seinen Club 2014 als kriminelle Vereinigung einstufte und verbot.

Heute ist Philip Schlaffer 40 Jahre alt. Er spricht offen, ruhig und reflektiert. Lächelnd, mit Einfühlungsvermögen, aber auch hart und ehrlich in der Selbstkritik. Er hat sein altes Leben radikal gelebt und lebt auch sein neues radikal – keine Tabus, keine Geheimnisse, alles kommt auf den Tisch. Auch wenn es weh tut. Auch wenn es um durchgeschnittene Kehlen geht. „Nach diesem Mord hat sich bei uns einiges verändert”, sagt Schlaffer nachdenklich und stellt die Tasse Kaffee ab. „Doch eigentlich fing da die ganze Geschichte erst richtig an.” Dann beginnt er zu erzählen.

Der Weg zur Wut

Philip Schlaffer wurde 1978 in Stockelsdorf bei Lübeck geboren und wuchs in gutbürgerlichen Verhältnissen auf. Der Vater war Akademiker, die Mutter technische Zeichnerin, eine drei Jahre ältere Schwester sorgte sich um den kleinen Philip, wenn die Eltern mal keine Zeit hatten. Er war gut in der Schule, bekam eine Empfehlung fürs Gymnasium. Alles war perfekt – bis der Vater entschied, für seine Firma ins Ausland zu gehen. Nach Newcastle, einer Industriestadt im Norden Englands.

Philip war zehn Jahre alt, ein kleiner deutscher Junge in Nordengland in den 1980er-Jahren. Keine gute Idee. Es wurde verprügelt, bespuckt, als „Nazi-Schwein” bezeichnet. „Das war das erste Mal, dass ich dieses Wort hörte, Nazi”, erzählt Schlaffer. „Ich habe dann meine Mutter gefragt: Mama, was ist denn ein Nazi?”

Mit der Zeit verbesserte sich die Situation für Philip. Er lernte schnell Englisch, seine schulischen Leistungen wurden besser. Und als der groß gewachsene Junge auch noch begann, in der Schulmannschaft Rugby zu spielen, kehrte sich die Wahrnehmung seiner Klassenkameraden vollends um: Er war beliebt, wurde in Anlehnung an den Spitznamen der Einwohner Newcastles überall nur noch „German Geordie” genannt. Philip hatte es geschafft, die schwierige Übergangsphase in einem fremden Land mitten in der Pubertät zu überstehen.

So ging es weiter für ihn, zwei, drei Jahre. Bis die Eltern ihn im Frühling 1992 wieder zu einem Gespräch baten: Die Arbeit des Vaters war beendet, schon am Ende der Sommerferien sollte es zurück nach Deutschland gehen. Für Philip brach eine Welt zusammen. Er versuchte sich noch zu wehren, lief von Zuhause weg. Doch es nützte alles nichts. Sein Leben in England war beendet.

Wieder in Deutschland angekommen, wiederholte sich das Drama der schwierigen Integration. Doch dieses Mal nahm es kein gutes Ende. Schlaffer sprach nicht mehr so gut Deutsch wie vorher. Seine Freunde von damals wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er schrieb immer schlechtere Noten, musste das Gymnasium verlassen und landete schließlich auf der Gesamtschule.

Als Außenseiter suchte er Kraft in der Musik, erst bei den Böhsen Onkelz, dann bei rechtsextremen Bands wie Endstufe, Landser, Volkszorn und Störkraft. „Diese Musik hat mich direkt angesprochen. Ich habe mich so gefühlt, als wären alle gegen mich, Schule, Eltern, die ganze Gesellschaft. Und diese Bands haben genau darüber gesungen”, berichtet Schlaffer.

Rechte Radikalisierung

Anfänglich sei das wichtiger gewesen als die Politik, „die antisoziale Stimmung in der Musik, das war meine Einstiegsdroge in die rechte Szene.” Doch irgendwann drangen auch die politischen Botschaften zu ihm durch. Mit 15 tat er sich mit Gleichgesinnten zusammen, war immer häufiger bei Spielen des VfB Lübeck anzutreffen. Er und seine Kumpels blickten auf zu den kahlköpfigen, tätowierten Männern mit ihren engen Jeans und den weißen Schnürsenkeln in den Springerstiefeln, zu den Älteren, die sich da am Rand der Fußballspiele prügelten.

Es waren die frühen 1990er Jahre, die Zeit der Skinheads, die Zeit von Hoyerswerda, Solingen und Rostock-Lichtenhagen. Die deutsche Wiedervereinigung führte zu einem Erstarken rechter Politik in Deutschland, beflügelt durch eine steigende Zahl an Flüchtlingen, die im Zuge der Jugoslawienkriege vom Balkan nach Westeuropa flohen. Die Anführer der wachsenden Skinhead-Szene genossen Einfluss und Ansehen unter ihresgleichen. So, genau so, wollte Philip auch werden.

In den Folgejahren verfolgte Schlaffer beharrlich dieses Ziel. Gewalt spielte eine immer größere Rolle in seinem Leben, nicht nur bei Fußballspielen, sondern auch auf der Straße. Schon mit 19 bekam er seine erste mehrjährige Bewährungsstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung.

Gewalt war dabei für Schlaffer nicht bloß Mittel zum Zweck, sondern ein integraler Bestandteil seiner Identität und seiner Lebensmeisterungsstrategien: „Gewalt lässt dich etwas spüren, Adrenalin, das Überwinden von Angst, das Gefühl von Freiheit, man wächst. Man fühlt sich männlich, was heute im Alltagsleben für junge Männer selten erreichbar ist. Und man erhält Anerkennung und Bewunderung aus der Gruppe, die einem das Gefühl gibt, richtig zu sein.”

Die Kameradschaft Werwolf

Und so arbeitete und kämpfte sich Philip Schlaffer in der rechtsextremen Szene nach oben. Nach der Schule und einer Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann startete Schlaffer einen rechtsextremen Versandhandel, verkaufte T-Shirts und Musik. Er verdiente viel Geld, schon im ersten Jahr seiner Selbstständigkeit konnte er 100 000 Mark zurücklegen. Das Geld nutzte Schlaffer, um in Wismar Immobilien zu erwerben. Der Umzug nach Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 2001 hatte persönliche Gründe: Schlaffers damalige Freundin wollte zurück in ihre Heimat.

Die räumliche Veränderung sollte sich für den aufstrebenden Neonazi als Glücksfall erweisen: „Ich konnte es kaum glauben, wie viele Rechte es in Wismar gab und wie offen wir unsere Gesinnung zur Schau stellen konnten”, sagt Schlaffer. Der große Unterschied zur rechtsextremen Szene im Westen: „Die Masse war da, aber sie war jünger, versprengter, unorganisierter. Also beschloss ich, der ganzen Sache mehr Struktur zu geben”.

Schlaffer gründete die „Kameradschaft Werwolf”, der Name ging auf die Guerilla-Gruppen der SS während des Zweiten Weltkrieges zurück. Die Gruppe begann mit rund 30 Mitgliedern, über die Jahre wuchs sie immer weiter an. Schlaffer kaufte mit dem durch seinen Versandhandel verdienten Geld ein Haus, eröffnete einen rechtsextremen Plattenladen und ein Tattoo-Studio.

Gruppenfoto der "Kameradschaft Werwolf", die Philip Schlaffer Anfang der 2000er Jahre in Wismar gründete.
Gruppenfoto der "Kameradschaft Werwolf", die Philip Schlaffer Anfang der 2000er Jahre in Wismar gründete. (Foto: Privat)

Bundesweit bekannt wurde Philip Schlaffer im August 2006. Kurz vor den Landtagswahlen in MV demonstrierten linke Gruppen gegen die rechtsextremen Strukturen in Wismar, die Demo führte an Schlaffers „Werwolfshop” vorbei. Es kam zu Beleidigungen, Rangeleien, fünf Neonazis standen plötzlich mit Baseballschlägern rund 50 Demonstranten gegenüber. Dazwischen drei Polizisten mit gezogenen Waffen, drei weitere nahmen einen der Rechtsextremen fest, der auf einen Demonstranten losgegangen war.

Ein Video von der Aktion landete im Netz, später zeigte auch Spiegel TV die Bilder: fünf Nazis, die es mit 50 Antifas aufnehmen und sich auch von den gezogenen Waffen der Polizei nicht einschüchtern lassen – eine bessere Werbung für Kameradschaft und Szene konnte es damals gar nicht geben.

Vom Nazi zum Biker-König

Doch zu diesem Zeitpunkt wurde es bereits dunkler in Philip Schlaffers Welt. Dabei zog er aber nicht seine rechte Ideologie, sondern die Professionalität seiner Kameraden in Zweifel. Immer wieder erlebte er Enttäuschungen in der Szene: fehlende Kameradschaft, Lügen, Verrat, Gewalt untereinander. Alkohol und Drogen spielten eine zunehmende Rolle, darunter litten sowohl der Zusammenhalt als auch die Geschäfte.

Im Oktober 2006 drangen mehrere bewaffnete Personen, Geschäftspartner aus der rechtsextremen Szene Berlins, in Schlaffers Wohnung ein und forderten Geld, es kam zu einer Schießerei. Zwei Monate später geschah etwas noch viel Grauenvolleres: Auf einer Silvesterparty ermordeten seine Kameraden einen Saufkumpanen. Die Gruppe war sternhagelvoll, ein Wort gab das andere, dann flogen die Fäuste. Weil der Mann den Wohnzimmerteppich des Wohnungsinhabers voll blutete, schnitt dieser ihm vor Wut die Kehle durch.

Selbst der gewalterprobte Schlaffer war schockiert: „Sie riefen mich an, erzählten mir die Geschichte und fragten, was sie jetzt machen sollten. Und als ich da ankam, waren sie so unbeteiligt, so emotionslos, als wäre es kein Mensch gewesen, den sie da getötet hatten.”

Kurz danach verließen Schlaffer und drei seiner Freunde die Kameradschaft, die sie fünf Jahre zuvor aus der Taufe gehoben hatten. Es war 2008. Gemeinsam mit einigen alten Weggefährten gründeten die vier einen eigenen Motorradclub: die Schwarze Schar Wismar, mit Philip Schlaffer als Präsident. Politisch war die Gruppe zu dem Zeitpunkt nicht mehr. „Klar, wir brauchten Manpower, deswegen haben wir uns nicht distanziert von der rechten Szene”, sagt Schlaffer heute. „Aber ich persönlich hatte die Schnauze voll von der ganzen rechten Scheiße.”

Keine Politik, das meinte der Club ernst: Den Mitgliedern war es sogar verboten, sich politisch zu äußern, bei Zuwiderhandlungen drohten Geldstrafen. Letzten Endes ging es genau darum: um Geld. Schlaffer war zu diesem Zeitpunkt bereits im Rotlichtmilieu aktiv, er vermietete Wohnungen an Prostituierte. Dieses Geschäftsmodell baute die Schwarze Schar aus. Hinzu kamen Schutzgelderpressungen und Drogengeschäfte. Die Gruppe kaufte unter anderem bei Mitgliedern einer Bremer Hooligan-Gruppe in großen Mengen Kokain ein und verkaufte den Stoff im Nordosten weiter.

Aus der Kameradschaft Werwolf ging der kriminelle Rockerclub "Schwarze Schar MC" hervor. Schlaffer (Mitte, sitzend) war ihr Präsident.
Aus der Kameradschaft Werwolf ging der kriminelle Rockerclub "Schwarze Schar MC" hervor. Schlaffer (Mitte, sitzend) war ihr Präsident. (Foto: Privat)

Als Präsident des Clubs stand Philip Schlaffer immer wieder im Visier der Behörden. Er wurde viele Male angeklagt und verurteilt, saß mehrere Jahre im Gefängnis. Es war Teil des Lebens, das er sich aussuchte. Doch irgendwann ging es nicht mehr weiter. Der Druck, sein Leben mit der brachialen Härte eines Schwerverbrechers führen zu müssen, nagte zunehmend an ihm. Schlaffer litt unter Migräne, Schlafstörungen, Depressionen. „Mit meinen Brüdern, wie ich sie damals nannte, konnte ich darüber natürlich nicht sprechen, da wäre ich sofort weg vom Fenster gewesen.”

Waffen spielten immer eine große Rolle im Leben des Ex-Rockers.
Waffen spielten immer eine große Rolle im Leben des Ex-Rockers. (Foto: Privat)

Das neue Leben

Das Verbot der Schwarzen Schar durch das Schweriner Innenministerium im Januar 2014 kam für Schlaffer deshalb einer Erlösung gleich. Jahrelang hatten die Behörden gegen den Club ermittelt, ihn der organisierten Kriminalität zugerechnet. Dann zogen die Behörden den Stecker. Schlaffer fiel zunächst in ein Loch. „Rückwirkend kann ich sagen, dass ich da richtig depressiv war.”

Er bat seine Familie um Hilfe, begann wieder Fußball zu spielen und viel zu lesen, sich mit Buddhismus zu beschäftigen. „Ich habe diese Bücher aufgesaugt und schließlich auch nach Außen kommuniziert, dass ich mich ab jetzt der buddhistischen Lehre verschreibe”, erzählt Schlaffer. Und fügt hinzu: „Aus meinem Umfeld hat das keiner verstanden, die dachten, ich mache Voodoo.”

Ein halbes Jahr später holte ihn sein altes Leben ein: Schlaffer wurde erneut angeklagt und wegen illegalen Drogenhandels verurteilt. Er saß zwei weitere Jahre im Gefängnis, in Stralsund, wo er psychotherapeutische Hilfe bekam und sich vollends von seinem kriminellen Leben löste. Nach seiner Entlassung im Jahr 2016 begann Schlaffer, auch öffentlich über sein Leben zu sprechen. Er postete Facebook-Videos und sprach über Veränderung, über Sinn, über seine Erfahrungen als Ex-Gangster.

Es meldeten sich viele junge Leute bei ihm, die am Anfang ihrer kriminellen Karrieren standen. Sie wollten wissen, wie sie da wieder rauskommen. So wuchs in ihm der Wunsch, diesen jungen Menschen zu helfen. Und so gründete Schlaffer den Verein „Extremislos”, der Gewalttätern den Ausstieg aus der Szene erleichtert. Er geht heute in Schulen, um mit Jugendlichen über ihre politischen Radikalisierungen zu sprechen und betreibt einen Youtube-Kanal, auf dem er über die Neonazi- und Rockerszene aufklärt.

Hat Schlaffer heute Angst, sich gegen die Neonazi-Szene und das Rocker-Milieu auszusprechen? „Nein. Ich finde, dass das eine falsche Botschaft ist: Du gehst raus aus der Szene und dann hast Du Angst. Das stimmt einfach nicht.” Schlaffer trifft aber Sicherheitsvorkehrungen, verlässt zum Beispiel öffentliche Veranstaltungen am Abend nicht als Letzter. Doch sonst lebt er sein Leben ganz normal weiter. Sein neues Leben, ohne Hass, ohne Gewalt, dafür mit Erfüllung und Sinn.

„Ich mache das alles hier nicht für euch”, sagt er schließlich. „Ich spreche nicht mit den Kids, damit ihr mich mögt.” Schlaffer nippt noch einmal am Kaffee, ringt um die richtigen Worte. „Ich spreche ja viel mit Menschen, die an meinem früheren Leben interessiert sind. Weißt Du, was mich die wenigsten fragen? Ob ich glücklich bin.” Er hält einen Augenblick inne, um der Antwort Nachdruck zu verleihen: „Ja, verdammt, ich bin heute glücklich.”